Enrico Letta legt Bericht zur Zukunft des Binnenmarktes vor.

HS – 05/2024

Im April hat der frühere italienische Ministerpräsident und heutige Präsident des Jaques-Delors-Instituts Enrico Letta seinen Bericht zur Zukunft des Binnenmarktes der Europäischen Union (EU) vorgestellt. In Vorbereitung des Berichts hatte Letta seit September 2023 insgesamt 400 Gespräche in 65 Städten sowohl der EU als auch der EU-Beitrittsländer geführt.


Der Bericht stellt fest, dass es ein inhärentes Spannungsverhältnis gibt zwischen den Ergebnissen eines gut funktionierenden Binnenmarktes, der im Allgemeinen den öffentlichen und privaten Wohlstand erhöhe, und der Sozialagenda, die darauf abziele, niemanden zurückzulassen. Entsprechend sei der Binnenmarkt nicht nur ein Motor für Wachstum und Wohlstand, sondern auch eine mögliche Quelle der Ungleichheit und Armut, wenn seine Vorteile nicht breit gestreut werden oder bei den Sozialstandards ein Wettlauf nach unten beginne. Es müsse deshalb sichergestellt werden, dass jede Weiterentwicklung des Binnenmarktes eine echte soziale Dimension beinhalte, um soziale Gerechtigkeit und Kohäsion zu gewährleisten. Eine starke soziale Dimension im EU-Binnenmarkt fördere einen integrativen Wohlstand, indem sie faire Chancen, Arbeitnehmerrechte und sozialen Schutz für alle gewährleiste und gleichzeitig zum Wachstum beitrage.

Erweiterung der Zugänglichkeit von Arbeitsmobilität

Die Freizügigkeit sei die am wenigsten entwickelte der vier Freiheiten des Binnenmarkts und nur einer Minderheit von EU-Bürgerinnen und -Bürgern zugänglich, stellt der Bericht fest. Vor diesem Hintergrund werden Maßnahmen empfohlen, um die Vorteile der Mobilität einer größeren Zahl von Menschen verfügbar zu machen. So sollten Verfahren unter Nutzung des Potenzials der Digitalisierung vereinfacht werden, zum Beispiel zur Entsendung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Letta schlägt vor, die beiden Meldungen (PDA 1 und Entsendeerklärung), die derzeit nach EU-Recht für jede Entsendung erforderlich sind, in einer einzigen Meldung zusammenzufassen.


Des Weiteren müsse die Koordinierung der sozialen Sicherheit zu einer Priorität der politischen Agenda der EU werden. Die vollständige Umsetzung des elektronischen Austauschs von Sozialversicherungsdaten (EESSI) durch alle Mitgliedstaaten müsse abgeschlossen und die Pilotprojekte zum Europäischen Sozialversicherungsausweis (ESSPASS) vorangetrieben werden, um digitale Lösungen für die Überprüfung von Sozialversicherungsansprüchen in anderen EU-Ländern einzuführen. Außerdem sollten die Vorschläge für die Einführung einer europäischen Sozialversicherungsnummer wieder aufgegriffen werden. Weitere von Letta empfohlene Maßnahmen zur Steigerung der Arbeitsmobilität betreffen unter anderem den Abbau von Hindernissen für die berufliche Mobilität, die Integration arbeitsloser Personen in den Arbeitsmarkt und eine Verbesserung des Zugangs zu Informationen zu Arbeitnehmerrechten im Bereich sozialer Sicherheit und Mobilität.

Vermeidung einer Schwächung von sozialen und Arbeitsrechten

Eine der Kehrseiten der Freizügigkeit ist, dass sie im Zuge der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit genutzt werden kann, um bestehende Arbeitsnormen und -vorschriften zu umgehen. Die Gewährleistung gleicher Wettbewerbsbedingungen, die Bekämpfung von Sozialdumping und die Eindämmung des Missbrauchsrisikos seien deshalb Schlüsselelemente eines gut funktionierenden Binnenmarktes, so der Letta-Bericht. Im Laufe der Jahre habe die EU eine ganze Reihe von Instrumenten eingeführt, um diesen Risiken zu begegnen, aber es könne noch mehr getan werden. Zu den im Bericht empfohlenen Maßnahmen zählen etwa die Stärkung der Europäischen Arbeitsbehörde, verbesserte Koordinierung der sozialen Sicherheit sowie die Klärung des Rechtsrahmens für die Entsendung von Drittstaatsangehörigen, die durch die fehlende Verknüpfung von Arbeits- und Migrationsrecht einem höheren Risiko von Sozialbetrug ausgesetzt sind.

Weiterentwicklung im Bereich Arbeitsschutz

Besonderes Augenmerk sollte darauf gerichtet werden, einen Wettlauf nach unten bei Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz zu vermeiden. Hier geht der Bericht auf die wichtige Rolle der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (EU-OSHA) sowie der Weiterentwicklung von Strategien in diesem Bereich ein. Laut Letta sollten vor allem Themen wie psychische Gesundheit, einschließlich Stress und Burnout, sowie die Risiken im Zusammenhang mit dem Klimawandel angegangen werden. Um Unfällen vorzubeugen, unterstreicht der Bericht die Notwendigkeit von solider Datenerhebung und Analyse. Diese Daten sollten genutzt werden, um gezielte Maßnahmen und faktengestützte Sicherheitsstrategien zu entwickeln.

Nächste Schritte

Der Bericht wurde von den Staats- und Regierungschefinnen und -chefs der EU bei einer außerordentlichen Tagung des Europäischen Rates am 17. und 18. April im Kontext der Wettbewerbsfähigkeit diskutiert. In den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates werden der gegenwärtige und der kommende Ratsvorsitz ersucht, die Arbeit zu den im Bericht enthaltenen Empfehlungen bis Ende des Jahres voranzubringen.