Nach langem Warten hat der Rat die neue Produkthaftungsrichtlinie verabschiedet.

UM – 10/2024

Rund zehn Monate nach dem erfolgreichen Abschluss der Trilogverhandlungen am 14. Dezember 2023 hat der Rat für Justiz und Inneres am 10. Oktober sein formelles Ja zur neuen Richtlinie für die Haftung für fehlerhafte Produkte gegeben. Die Verabschiedung erfolgte ohne weitere Aussprache. Der Rat hatte schon vor Monaten informell dem Europäischen Parlament seine Zustimmung angekündigt.


Die Neufassung des Produkthaftungsrechts war überfällig. Die aktuelle Produkthaftungsrichtlinie 85/374 EWG stammt aus dem Jahr 1985. Es sind insbesondere drei Entwicklungen, die die Neuformulierung der verschuldensunabhängigen Haftung für fehlerhafte Produkte vorangetrieben hat.

KI, Onlinehandel, Kreislaufwirtschaft

Erstens: Smarte Produkte und Systeme mit künstlicher Intelligenz (KI) überfordern die heute geltenden juristischen Begriffe und Voraussetzungen und erzwingen Anpassungen. Durch einen neuen Produktbegriff rücken neben KI-Systemen auch Software oder digitale Bauunterlagen nun in den Fokus des Produkthaftungsrechts.


Zweitens: Lieferketten gestalten sich heute anders als in den 80er Jahren, zum Teil auch mit neuen Wirtschaftsakteuren wie Plattformen für den Onlinehandel oder deren für die Auftragsabwicklung tätigen Fulfillment-Dienstleistern. Zur Sicherstellung grundlegender Verbraucherrechte musste dem Auftreten neuer Wirtschaftsakteure auch eine Neufassung der möglichen Haftungssubjekte folgen. Andernfalls würden haftungsrechtliche Ansprüche ins Leere laufen.


Drittens: Die Europäische Union (EU) setzt mit ihrer Nachhaltigkeitsstrategie perspektivisch auf mehr Kreislaufwirtschaft. Mit dem Grünen Deal sollen Geschäftsmodelle gefördert werden, bei denen regelmäßig Produkte repariert, recycelt und aufgearbeitet werden. Damit rücken Akteure in den Geltungsbereich des Produkthaftungsrechts, die Produkte außerhalb der Kontrolle des Herstellers wesentlich verändern.

Konsequenzen für Unternehmen

Auf die Unternehmen kommen mit der Neufassung des europäischen Produkthaftungsrechts neue Haftungs- und Prozessrisiken zu. Neben der Ausweitung des Produktbegriffs und dem Kreis der Wirtschaftsakteure hat sich auch der Fehlerbegriff erweitert. So umfassen die Produktsicherheitsanforderungen künftig auch die Cybersicherheit, aber auch spezifische Anforderungen der Nutzergruppen wie zum Beispiel bei lebenserhaltenden Medizinprodukten. Zudem wird klargestellt, dass Personenschäden auch medizinisch anerkannte psychische Gesundheitsschäden umfassen. Zwar bleibt die Regelverjährung von drei Jahren ab Kenntnis des Geschädigten und die zehnjährige Höchstfrist ab Inverkehrbringen des Produkts bestehen, sie kann aber – und das ist neu - auf 25 Jahre verlängert werden, und zwar für gesundheitliche Spätschäden. Gerichtliche Prozessrisiken entstehen durch die Pflicht zur Offenlegung aller relevanten Beweismittel durch den Beklagten, soweit dies notwendig und verhältnismäßig ist.

Wegfall von Haftungsgrenzen

Aus deutscher Perspektive ist von besonderem Interesse, dass das neue europäische Produkthaftungsrecht keine Obergrenzen bei der Haftung mehr kennt. Gegenwärtig kennt das deutsche Produkthaftungsrecht einen Höchstbetrag für Personenschäden von 85 Millionen Euro. Gesonderte Regelungen gibt es für Arzneimittelschäden im Arzneimittelgesetz. Es bleibt abzuwarten, wie die Bundesregierung die neue europäische Richtlinie umsetzen wird. Folgt man dem in den Erwägungsgründen manifestierten politischen Willen, sollen die Mitgliedstaaten keine strengeren oder weniger strengen Bestimmungen beibehalten oder einführen als die in der Richtlinie festgelegten. Ob künftig die Haftungsobergrenzen in Deutschland fallen, ist damit aber noch nicht garantiert.

Ausbalancierung der Beweislast

Mit der neuen Produkthaftungsrichtlinie geht eine deutliche Stärkung der Verbraucherinteressen einher. Juristische Löcher werden gestopft, neue Produktrisiken sowie Risiken in den Lieferketten werden aufgefangen. Die Rechtstellung der Geschädigten wird aber nicht nur durch das Recht auf Herausgabe von Beweismitteln durch die Hersteller gestärkt, sondern auch durch ein neu ausbalanciertes Beweismaß. Hier wartet die neue Richtlinie mit Erleichterungen für die Verbraucherinnen und Verbraucher auf, so unter anderem durch die Vermutung der Fehlerhaftigkeit bei Verletzung von Offenlegungspflichten, die Vermutung der Kausalität bei fehlertypischen Schäden oder in komplexen Fällen die Vermutung von Fehlerhaftigkeit und Kausalität, wenn diese plausibel erscheinen.