Verliert die Europäische Kommission sozialpolitische Fragen aus dem Blick?

HS – 05/2025

Im diesjährigen Arbeitsprogramm hat die Europäische Kommission bekräftigt, dass die Stärkung der sozialen Gerechtigkeit ein Schwerpunkt sein soll. Denn das europäische Sozialmodell sei nicht nur ein gesellschaftlicher Eckpfeiler, sondern auch ein Wettbewerbsvorteil Europas. Nichtsdestotrotz sind seit Start der aktuellen Legislaturperiode nur geringe Fortschritte im Bereich der klassischen Sozialpolitik zu verzeichnen. Bedeutet dies, dass angesichts des Fokus auf Wettbewerbsfähigkeit und Verteidigung in den nächsten Jahren kaum sozialpolitische Akzente zu erwarten sind?

Klassische Sozialpolitik eher im Hintergrund

Klassisch sozialpolitische Initiativen haben im Arbeitsprogramm 2025 wenig Raum eingenommen. Zwar wurde ein neuer Aktionsplan zur Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte angekündigt, genauso wie ein Fahrplan für hochwertige Arbeitsplätze und eine – bereits vorgestellte – Union der Kompetenzen. Doch all diese Initiativen sind nicht-legislativer Art. Hinzu kommen andere Maßnahmen, die im Mission Letter und der Anhörung von Exekutiv-Vizepräsidentin Roxana Mînzatu angekündigt wurden, deren Entwicklung aber unklar ist. Dazu zählen Initiativen zum Recht auf Nichterreichbarkeit, Telearbeit und zur Regulierung von algorithmischem Management am Arbeitsplatz. In ihrer Anhörung hatte Mînzatu unter anderem zugesagt, direkt nach Amtsantritt die zweite Phase der Konsultation zum Recht auf Nichterreichbarkeit mit den Sozialpartnern einleiten zu wollen, doch das ist bisher nicht geschehen. Stattdessen sammelt die Europäische Kommission mit einer neu in Auftrag gegebenen Studie Informationen zum Mehrwert und den Auswirkungen möglicher EU-Maßnahmen in diesem Bereich.

Verspätete Evaluierung der Europäischen Arbeitsbehörde

Auch um die Europäische Arbeitsbehörde (ELA) war es lange unerwartet ruhig. Sie wurde 2019 eingerichtet, um die Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) und die Europäische Kommission dabei zu unterstützen, die EU-Vorschriften über Arbeitskräftemobilität und die Koordinierung der sozialen Sicherheit durchzusetzen. Die Europäische Kommission war nach Artikel 40 der Gründungsverordnung der ELA verpflichtet, bis zum 1. August 2024 eine Evaluation der Leistung der Agentur vorzulegen. Doch die Evaluierung wurde erst Ende Mai 2025 veröffentlicht. Darauf aufbauend möchte die Europäische Kommission Anfang 2026 einen Vorschlag für eine Mandatsanpassung vorlegen. In die Evaluierung floss unter anderem eine Entschließung des Europäischen Parlaments zur Überarbeitung des ELA-Mandats aus dem Januar 2024 ein. Darin forderten die Abgeordneten unter anderem, die Behörde in die Lage zu versetzen, in grenzüberschreitenden Fällen mutmaßliche Verstöße auch auf eigene Initiative hin untersuchen zu können. Außerdem sprach sich das Europäische Parlament für die Erweiterung des Zuständigkeits- und Tätigkeitsbereichs der ELA auf Beschäftigte aus Drittstaaten aus.

Geplanter Rückzug der horizontalen Diskriminierungsrichtlinie

Darüber hinaus wird der im Arbeitsprogramm angekündigte Rückzug des Kommissionsvorschlags für eine horizontale Antidiskriminierungsrichtlinie gerade im Europäischen Parlament kritisch gesehen. Der Vorschlag zielt auf die horizontale Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ungeachtet der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Orientierung. Die Richtlinie sollte auch die Bereiche Sozialschutz (einschließlich sozialer Sicherheit und Gesundheitsdiensten), soziale Vergünstigungen, Bildung sowie Zugang zu Gütern und Dienstleistungen (einschließlich Wohnraum) umfassen. Die Europäische Kommission hat den Vorschlag bereits 2008 vorgelegt, möchte ihn jedoch zurückziehen, da es dazu bisher keine Einigung im Rat gibt. Bei einer Aussprache zwischen dem Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) des Europäischen Parlaments und der zuständigen Kommissarin Hadja Lahbib am 12. Mai äußerten die Abgeordneten größtenteils Enttäuschung über die für August geplante Rücknahme. Hadja Lahbib betonte, dass der Rückzug des Vorschlags nicht zwingend sei, vielmehr hoffe sie auf eine Einigung im Rat in den nächsten Monaten.

Wo stehen soziale Themen auf der Prioritätenliste?

Angesichts dieser Entwicklungen stellt sich die Frage, ob Sozialpolitik künftig hinter Wirtschafts- und Verteidigungspolitik zurücktreten muss. Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass sich vor allem das Narrativ geändert hat: Für die Sozialversicherung wichtige Initiativen etwa im Bereich des Arbeitsschutzes, der Chemikalien- und der Gesundheitspolitik werden nun zunehmend im Rahmen von Wirtschafts- und Sicherheitspolitik präsentiert. Dies betrifft zum Beispiel das Gesetz für kritische Arzneimittel und die Überarbeitung der REACH-Verordnung, die die Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung von Chemikalien in der EU regelt. Ferner bleibt festzustellen, dass die aktuelle Prioritätensetzung nicht zuletzt geopolitischen Herausforderungen geschuldet ist – ähnlich der Situation um die COVID-19-Pandemie zu Beginn von Ursula von der Leyens erster Amtszeit als Kommissionspräsidentin. Die Schwerpunktsetzung der Europäischen Kommission kann sich also im Verlauf der aktuellen Legislaturperiode auch wieder ändern. Für die Sozialversicherung bedeuten die aktuellen Entwicklungen, Initiativen über vermeintliche Ressortgrenzen hinaus wachsam zu verfolgen und noch mehr als zuvor proaktiv auf soziale Belange hinzuweisen.