Panel 1: Mehr Versorgungssicherheit durch strategische Unabhängigkeit?
ed* Nr. 01/2021 – Kapitel 3
Der deutsche SPD-Europaabgeordnete Tiemo Wölken zog in seinem Impulsreferat grundsätzliche Linien: „Ein universeller Zugang zu qualitativ hochwertiger Gesundheitsversorgung zu erschwinglichen Kosten für den Einzelnen und die Gesellschaft ist nicht nur ein Grundbedürfnis, es gehört zu den gemeinsamen Werten und Grundsätzen in der Europäischen Union – verankert in der Grundrechtecharta.“ Dazu zähle auch die Versorgung mit Arzneimitteln. Die COVID-19-Pandemie zeige, dass die EU in Krisensituationen widerstandsfähiger werden müsse. Insbesondere zu Beginn der Pandemie wurden große Anstrengungen für ein koordiniertes Handeln zwischen den Mitgliedstaaten unternommen. Temporäre Schließungen der Grenzen und Ausfuhrstopps oder die nationale Bevorratung medizinischer Versorgungsgüter – dies berge Risiken im EU-weiten Zugang zu Arzneimitteln und für die medizinische Versorgung.
Diese Situation habe die Abhängigkeit von funktionierenden Lieferketten vor Augen geführt. Diese reichten über die EU-Grenzen hinaus. Häufig bestünden Abhängigkeiten von singulären Produktionsstätten in Drittstaaten. Wölken hinterfragte kritisch, ob eine Rückholung der Produktion nach Europa ein realistisches Szenario und die Lösung darstelle. Vielmehr sehe er den Gesetzgeber in der Verantwortung, die EU als Produktionsstandort attraktiver zu gestalten.
„Ein universeller Zugang zu qualitativ hochwertiger Gesundheitsversorgung zu erschwinglichen Kosten für den Einzelnen und die Gesellschaft ist nicht nur ein Grundbedürfnis, es gehört zu den gemeinsamen Werten und Grundsätzen in der Europäischen Union – verankert in der Grundrechtecharta.“
Transparenz in den Lieferketten und -Diversifizierung der Produktionsstandorte für Versorgungssicherheit mit Arzneimittelnin der EU
Dr. Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, teilte die Auffassung, dass die Mitgliedstaaten in Verteilungsfragen medizinischer Güter solidarischer agieren müssen. „Persönliche Schutzausrüstung sind keine Hightech-Produkte. Hier müssen wir zu ausreichenden Produktionskapazitäten in Europa kommen. Eine Situation, in der man sich weltweit ehemalige Pfennigprodukte zu Höchstpreisen gegenseitig weg kauft, darf nicht wieder eintreten.“
Auch das deutsche Gesundheitswesen müsse sich an die neuen Rahmenbedingungen anpassen. Wichtig sei, dass die Systeme in Europa funktionsfähig und finanzierbar blieben. Dies treffe auch auf die Versorgung mit Arzneimitteln zu. Ungleichheiten im Zugang zur Versorgung mit Arzneimitteln müssten abgebaut werden.
Pfeiffers Hauptanliegen war es, Transparenz über die Produktion und Lieferketten von essenziellen Arzneimitteln herzustellen. Nur so könne man die Probleme in der Produktion, welche sich auf die Versorgungssituation in Europa auswirken, identifizieren. Auch die Diversifizierung von Produktionsstandorten spiele hierbei eine tragende Rolle.
„In Europa benötigen wir mehr Transparenz über die Produktion und Verteilung von Arzneimitteln.“
Solidarität und Kooperation zum Schutz der öffentlichen Gesundheit in der EU
Gemeinsam sind wir stark. Das ist die Leitlinie der Europäischen Kommission in der Krise. Sylvain Giraud, Leiter der Abteilung Medizinprodukte aus der Generaldirektion Gesundheit hob hervor: „Wir müssen die Koordinierung der Behörden der Mitgliedstaaten in Krisensituationen stärken. Die EU-Kommission wird vorschlagen, die Kapazitäten der Agenturen ECDC und EMA auszubauen.“ Die Mitgliedstaaten hätten einerseits fragmentiert und aufgrund unterschiedlicher nationaler Vorgaben und Voraussetzungen zunächst unkoordiniert agiert. Zukünftig müsse die Absprache von Helsinki nach Lissabon sowie den Institutionen der Europäischen Union eine bedeutendere Rolle spielen.
Die Europäische Kommission sieht drei Handlungsfelder: Erstens sollte das Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) und die Europäische Arzneimittel-Agentur Arzneimittelagentur (EMA) mit zentralen Funktionen und Aufgaben der Krisenbewältigung ausgestattet werden. Hierzu wurden im Herbst 2020 Legislativvorschläge veröffentlicht. Die Europäische Kommission beabsichtigt darüber hinaus die Gründung einer Agentur für fortgeschrittene biomedizinische Forschung und Entwicklung am Beispiel der US-amerikanischen Biomedical Advanced Research and Development Authority (BARDA). Der Legislativtext wird für 2021 erwartet.
Zweitens sorgten funktionierende Systeme mit ausreichendem Versicherungsschutz für eine gesellschaftliche Sicherheit und sicherten ökonomischen Wohlstand sowie den sozialen Zusammenhalt. Voraussetzung sei dabei, dass die sozialen Sicherungssysteme in Krisensituationen wie dieser widerstandsfähig aufgestellt seien.
Als drittes Element sei die Verfügbarkeit und Liefersicherheit sowie die Sicherstellung des Zugangs für alle EU-Bürgerinnen und Bürger zu Arzneimitteln entscheidend. Engpässe könnten struktureller Natur sein, zum Beispiel auf Basis ungenügender nationaler Gesetzgebung.
”The crisis shows how important health systems, health coverage insurance and social protection are as a basis for economic prosperity and social cohesion.“
Standortfrage Europa – Finanzierbarkeit und -Attraktivität der Rahmenbedingungen
Mehr Europa – unter diese Überschrift stellte auch der österreichische SPÖ-Europaabgeordnete Dr. Günther Sidl sein Statement.
Die Krise habe gezeigt, dass Mitgliedstaaten mit guten Gesundheits- und Sozialsystemen bislang besser durch die Krise gekommen seien. „Ein stärkeres Vorsorgedenken muss in europäische Gesetzgebung implementiert werden.“ Daher sei auch jetzt nicht die Zeit für Diskussionen um Liberalisierung und Privatisierung von Gesundheitssystemen.
Mit Blick auf die Diskussion um die Attraktivität von Standorten für Hersteller sollte nicht nur an Produktionsbedingungen, sondern auch an die Forschung und Entwicklung gedacht werden.
„Ein stärkeres Vorsorgedenken muss in die europäische Gesetzgebung implementiert werden.“
Mehr Transparenz über das Versorgungsgeschehen erlaubt, die Versorgung und Innovation stärker am tatsächlichen Nutzen für Patientinnen und Patienten in Europa auszurichten
Nathalie Moll,Direktorin der European Federation of Pharmaceutical Industries and Associations, zieht viele Lehren aus der Krise. Das Hauptaugenmerk der Industrie liege bei einer Bereitschaftsplanung für kritische Arzneimittel. Damit sind die Hersteller seit Dezember 2019 beschäftigt, um der Nachfrage gerecht werden zu können.
Auch sie sprach sich für mehr Transparenz und Informationen darüber aus, welcher Bedarf bestehe. „Verstärkte Kapazitäten zur Überwachung und Bewertung des nationalen und regionalen Gesundheitsbedarfs stärken die europäische Solidarität.“ Bislang sei oft unklar, welches Arzneimittel, wann, wo und in welcher Menge von Mitgliedstaaten nachgefragt werden kann.
Zentrale Handlungsfelder sehe die Industrie darin, dass mehr europäische Solidarität und gemeinsame Kapazitäten benötigt würden, um grenzüberschreitende Gesundheitsgefahren kooperativ zu lösen. Auch das Ökosystem für Forschung und Entwicklung müsse nachhaltig gestaltet werden. Dieses lasse sich nicht auf Knopfdruck ein- oder ausschalten. Ein Großteil innovativer Arzneimittel (77 Prozent) würde weiterhin in Europa produziert. Die Industrie sei jedenfalls in der Lage, die Produktion einzelner Arzneimittel in einer Pandemiesituation deutlich zu erhöhen.