Mangelnde parlamentarische Mehrheit für das Brexit-Verhandlungsergebnis lässt Aus­stiegs­sze­na­rien ohne ein Über­ein­kom­men an Bedeu­tung gewinnen.

GD/AD – 01/2019

Erwartungsgemäß verlor Premierministerin Theresa May „ihre“ Parlamentsabstimmung in Whitehall zum sogenannten „Deal“ mit der EU-Kommission. Zahlreiche eigene Abgeordnete und ihr „Duldungspartner“ von den nordirischen protestantischen Nationalisten, der „Democratic Unionist Party“, verweigerten ihr ebenso die Zustimmung wie die Labouropposition Jeremy Corbyns. Letztgenannter strebt „Neuwahlen“ an und leitete ein Misstrauensvotum als Folge der Niederlage Mays ein, welches sie eindeutig überstand.

Sowohl Debattenkultur als auch Parteiloyalitäten sind in Großbritannien ganz anders, als wir dies aus dem Deutschen Bundestag kennen. Bis heute hat weder die amtierende Labour-Parlamentsfraktion noch ihr Vorsitzender und Schattenpremierminister Jeremy Corbyn – selbst ein EU-Gegner aus ganz anderen Gründen als der klassische „Brexiteer“ – ein klares „europapolitisches Konzept, geschweige denn eine Lösung, wie der als „Horrorszenario“ beschriebene „ungeregelte EU-Austritt“ zu verhindern sei. Daher sind fraktionsübergreifende Konsenssuchen zum jetzigen Zeitpunkt möglicherweise schon zu spät.  

Die Bandbreite der Meinungsvielfalt geht dabei bis hin zu einem erneuten Referendum. Umfragen gäben diesem derzeit zumindest eine, wenn auch knappe, Mehrheit für den Verbleib. Ob es jedoch noch dazu kommt ist fraglich – vor dem 29. März 2019 wäre es zudem zeitlich nicht zu schaffen. Zusätzlich stellte sich die Legitimitätsfrage, insbesondere dann, wenn die neue Mehrheit erwartungsgemäß ebenfalls nur relativ knapp ausfiele.

Der grundsätzliche Irrtum einer Volksabstimmung zu einer für die Wählenden kaum zu überblickenden Gesamtproblematik in 2016 zeigt seither Ketten von Folgefehlern mit im Einzelfall bis heute fehlender Klarheit für Millionen. Dies betrifft etwa Kundinnen und Kunden von Finanz- und Versicherungsprodukten des Marktes – nicht so sehr der Sozialversicherung – deren Vertragsgültigkeit in EU-Staaten beispielsweise durch das „Passporting“ gesichert ist. Dies meint eine einmalige Zulassung eines Finanzproduktes in einem EU-Staat und damit dessen Marktzugangsfähigkeit in den anderen.

Nach einer Einschätzung der Bank von England wären rund 30 Millionen solcher Verträge in der EU und etwa sechs Millionen in Großbritannien dann nichtig, wenn sie über den 29. März 2019 hinaus laufen würden. Auch wenn Fachkreise, nach Meldung der „Welt online“, im Wege von Duplizierungen solcher Verträge – Part-VII-Transfer genannt – die Gültigkeit in anderen Rechtsräumen versuchen sicherzustellen, dürfte dies für die Gesamtmenge viel zu aufwändig und zeitraubend sein. Wie gemeldet wird, wäre jeder solcher Vertragstransfer gerichtlich vor Ort zu bestätigen. Dieses technische Problem zeigt sich nach Meinung von Branchenkennerinnen und Branchenkennern auch resistent gegen „rasche politische Lösungen“ im üblichen Stil. Vielmehr wären „unpolitische, sachgerechte Lösungen“ pragmatischen Charakters angezeigt, die im gegenwärtigen aufgeheizten Klima auch in London kaum zu finden seien.

Die Debatte in Westminster hat die Emotionalität der Lage erneut gezeigt.  Entsprechend wird ein „ungeregelter Brexit“ immer wahrscheinlicher, trotz der zahllosen negativen Folgen. Frankreich bereitet sich nach Meldungen von „BBC online“ aktiv darauf vor, andere EU-Staaten, auch die Bundesrepublik, folgen. „No deal plans“ , also Ausstiegsszenarien ohne ein Übereinkommen, gewinnen an Bedeutung.

Das Spektrum der Betroffenheit von Institutionen und Einzelpersonen ist dabei wohl weit gespannt und reicht von Touristinnen und Touristen auf der Suche nach medizinischer Behandlung und Akzeptanz der EU-Gesundheitskarte über Entsendungsregelungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und deren Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber bis hin zu Marktzugangsfragen, Zollformalitäten, Einfuhrumsatzsteuer (mit oder ohne Vorsteuerabzug?), Auslandsstudentinnen und Auslandsstudenten, hierbei in Großbritannien insbesondere deren Gebührenbelastung, und einer kaum zu überblickenden Vielzahl anderer Alltagserschwernisse.

Bis heute bleibt, nach Meinung von Kritikerinnen und Kritikern, der Labourchef Jeremy Corbyn europapolitisch unklar. Hätte Labour zum Referendum im Jahr 2016 eindeutig Position für einen Verbleib in der EU bezogen, wäre es kaum zu dem jetzt von so vielen bedauerten Ergebnis gekommen.