
Eine Erweiterung in der Zitatensammlung?
Anfrage von EU-Parlamentsabgeordneten zur Anwendung der Arbeitszeitrichtlinie auf die Freiwilligenarbeit.
RD – 11/2019
Unter Betrachtung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen
Union (EuGH) haben Mitglieder des Europäischen Parlaments der Fraktion „Renew“ das „Matzak“ Urteil zum Anlass genommen, um Fragen an die Europäische
Kommission zu richten.
Die noch amtierende Kommissarin Marianne Thyssen ging auf die Fragen ein,
- ob
die Kommission der Auffassung sei, dass sich die Ausführungen des EuGHs auf
alle Fälle der Freiwilligenarbeit (mit Bereitschaftsdienst) ausweiten ließe
und
- ob die Kommission der
Auffassung sei, dass diese Auslegung einen Präzedenzfall darstelle, der
möglicherweise Nachteile für die Beteiligten habe.
Sie
positionierte sich dazu eindeutig. Beim Fall Matzak handele es sich um eine
individuelle Einzelfallentscheidung. Es müsse unterschieden werden, in welchen
Fällen es sich tatsächlich um eine Arbeitnehmerin oder einen Arbeitnehmer handelt.
Der EuGH vertritt die Auffassung, dass unter den besonderen Umständen von Herrn
Matzak die Voraussetzungen für die Anerkennung als „Arbeitnehmer“ erfüllt sind.
Dieses Urteil impliziert aber nicht, dass die Voraussetzungen auf jede und
jeden freiwillig Leistenden in der EU zutreffen könnte und somit automatisch die Arbeitnehmereigenschaft
vorliegt.
Die Anwendung der Arbeitszeitrichtlinie bietet Flexibilität und
gewährleistet den Schutz der Gesundheit und Sicherheit der Bevölkerung, wie zum Beispiel durch die Feuerwehrkräfte. Mit der Entscheidung des EuGHs wird insofern keine
Benachteiligung gesehen, da die Mitgliedstaaten flexibel in der Handhabung sind
und unter anderem von den Vorschriften für tägliche und wöchentliche Ruhezeiten
abweichen können, sofern gleichwertige Ausgleichsruhezeiten gewährt werden. Die
Mitgliedstaaten können auch Ausnahmeregelungen einführen, die sich für einzelne
Gruppen, wie zum Beispiel freiwillige Hilfskräfte vorteilhaft auswirken können.
Hintergrund
Im Rechtsfall Matzak stritten die Parteien darüber, ob die
Bereitschaftszeit zu Hause als Arbeitszeit zu werten ist. Herr Matzak ist
freiwilliger Feuerwehrmann und Angestellter eines Privatunternehmens. Er klagte
gegen die Stadt Nivelles auf Zahlung von Schadenersatz für seine Leistung als
freiwilliger Feuerwehrmann und die zu Hause aufgebrachte Bereitschaftszeit. Der mit dem Rechtsmittel in diesem Rechtsstreit befasste „Cour du travail de
Bruxelles“ (Arbeitsgerichtshof Brüssel) hat entschieden, den EuGH zu befragen, ob
insbesondere die zu Hause geleisteten Bereitschaftsdienste unter die Definition
der Arbeitszeit im Sinne der Richtlinie 2003/88/EG fallen und ob die
Richtlinie den nationalen Gesetzgeber daran hindert, eine weniger restriktive
Arbeitszeitdefinition beizubehalten oder einzuführen.
Zu Hause zu verbringende Bereitschaftszeit kann „Arbeitszeit“ sein
In seinem Urteil vom 21. Februar 2018 - C-518/15 entschied der EuGH,
dass die Bereitschaftszeit, die ein Arbeitnehmer zu Hause verbringt und während
der er der Verpflichtung unterliegt, einem Ruf des Arbeitgebers zum Einsatz
innerhalb von acht Minuten Folge zu leisten, als „Arbeitszeit“
anzusehen ist. Bereits in der Vergangenheit hat sich der EuGH mit der
Abgrenzung von Arbeitszeit, Rufbereitschaft und Bereitschaftsdienst
beschäftigt. In seiner Entscheidung bestätigte der EuGH damit seine Linie zur
Einordnung von Bereitschaftszeit als Arbeitszeit und nahm hier eine weitere
Präzisierung vor. Für die Annahme als Arbeitszeit ist es bei der
Bereitschaftszeit unter anderem entscheidend, dass sich der Arbeitnehmer an einem vom
Arbeitgeber bestimmten Ort aufhalten muss, um ihm dann innerhalb kürzester Zeit
zur Verfügung zu stehen.
Neu ist, dass es unerheblich ist, ob dieser Ort der
eigentliche Arbeitsplatz oder etwa die Wohnung des Arbeitnehmers ist. Dies hat
der EuGH unter Hinweis darauf entschieden, dass die Verpflichtung persönlich an
dem vom Arbeitgeber bestimmten Ort anwesend zu sein sowie die Vorgabe, sich
innerhalb kurzer Zeit am Arbeitsplatz einzufinden die Möglichkeit anderen
Tätigkeiten nachzugehen erheblich einschränkt.
Definition der Begriffe „Arbeitszeit" und „Arbeitnehmer“ richtet sich nach EU-Recht
Der EuGH weist darauf hin, dass die Mitgliedstaaten im Hinblick auf
bestimmte Kategorien nicht von allen Verpflichtungen aus der Arbeitszeitrichtlinie
abweichen dürfen. Betroffen seien die Begriffe „Arbeitszeit“ und
„Ruhezeit“. Zudem gestatte die Richtlinie den Mitgliedstaaten nicht,
eine andere Definition des Begriffs „Arbeitszeit“ beizubehalten oder
einzuführen als die in der Richtlinie bestimmte. Gleiches gilt für den
Arbeitnehmerbegriff, der eine eigenständige unionsrechtliche Bedeutung hat.
Festlegung günstigerer Arbeits- und Ruhezeiten für Arbeitnehmer möglich
Es steht jedoch den Mitgliedstaaten frei, in ihrem jeweiligen nationalen
Recht Regelungen zu treffen, die günstigere Arbeits- und Ruhezeiten für
Arbeitnehmer vorsehen, als die in der Richtlinie festgelegten. Ferner regele
die Richtlinie nicht die Frage des Arbeitsentgelts für Arbeitnehmer, da dieser
Aspekt außerhalb der Zuständigkeit der Union liegt. Die Mitgliedstaaten könnten
somit in ihrem nationalen Recht bestimmen, dass das Arbeitsentgelt eines
Arbeitnehmers für die „Arbeitszeit“ von dem für die
„Ruhezeit“ abweicht, und dies sogar so weit, dass für letztere Zeiten
gar kein Arbeitsentgelt gewährt wird.
Im Fall „Matzak“ Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit bejaht
Der Gerichtshof stellte fest, dass Matzaks Möglichkeiten seinen
persönlichen und sozialen Interessen nachzugehen in dieser Zeitspanne
eingeschränkt seien. Angesichts dieser Einschränkungen unterscheide sich die
Situation Matzaks von der eines Arbeitnehmers, der während seines
Bereitschaftsdienstes einfach nur für seinen Arbeitgeber erreichbar sein muss.