
Corona-Pandemie stellt Europa vor große Herausforderungen
IW – 06/2020
Die Corona-Pandemie ist nicht nur ein Stresstest für die nationalen
Gesundheitssysteme, sondern auch für Europa. Die Verluste durch die
Corona-Krise sind groß, an erster Stelle stehen tausende Menschen, die den
Kampf gegen COVID-19 verloren haben. Europa verliert aber auch Wohlstand und
Arbeitsplätze, die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie werden dramatisch sein.
Europa ist in der Corona-Krise wichtiger als in normalen Zeiten.
Vor allem europäischer Zusammenhalt und Solidarität wird erwartet, nicht
nur von den Mitgliedsländern, sondern auch von den europäischen Bürgerinnen und
Bürgern. Europa muss deswegen einen Weg aus der Krise herausfinden, mit dem es nach
außen souveräner, solidarischer und stärker wird.
In den kommenden Monaten wird es deswegen darum gehen, weitere Lehren aus der
Krise zu ziehen. Brauchen wir einen stärkeren EU-Katastrophenschutz? Wie kann
die gemeinsame Beschaffung und Produktion von lebenswichtigen Medizingütern
verbessert werden? Das sind Fragen, die in Brüssel und den Mitgliedstaaten
intensiv diskutiert werden. Auch die Diskussion um eine Erweiterung der
Kompetenzen der Europäischen Union in bestimmten Bereichen werden wir uns stellen
müssen. Entsprechende Debatten sind bislang nach jeder von Europa zu
bewältigenden Krise auf die Tagesordnung gekommen.
Die amtierende EU-Kommissarin für Gesundheit, Stella Kyriakides, hat
bereits angekündigt, dass eine Diskussion zu den Kompetenzen der EU im Bereich
Gesundheit in der Zukunft notwendig sein werde, insbesondere mit Blick auf die
Kritik, die der EU-Kommission im Umgang mit der Krise entgegengebracht wurde.
Wenn es in Notsituationen, wie der Bekämpfung des Coronavirus, um gesundheits- und
sicherheitspolitische Initiativen geht, kann die EU-Kommission nicht mehr tun
als koordinieren. Deswegen müssen die Mitgliedstaaten gerade hier noch viel
enger zusammenarbeiten. Wesentlich mehr Spielräume hat die Brüsseler Behörde
dagegen, wenn es „ums Geld“ und die Einhegung der wirtschaftlichen Folgen geht.
Die Finanzminister aus den Mitgliedstaaten haben sich auf europäische
Hilfsprogramme der Europäischen Investitionsbank und des Europäischen Stabilitätsmechanismus
verständigt. Europa hat finanzielle Hilfen in einer noch nie dagewesenen Höhe
bereitgestellt, um die Mitgliedstaaten zu unterstützen. In den kommenden
Monaten werden sicherlich auch Diskussionen um einen wirtschaftlichen und
sozialen Wiederaufbauplan im Mittelpunkt stehen. Zumindest Deutschland und
Frankreich haben jetzt ein Programm im Umfang von 500 Milliarden Euro vorgeschlagen.
Deutschland wird sicherlich versuchen, diesen Vorschlag schon im zweiten
Halbjahr voranzubringen. Die deutsche Ratspräsidentschaft beginnt am 1. Juli
und endet am 31. Dezember. Sicher ist: Sie wird anders ablaufen als geplant. Schon
organisatorisch wird es große Herausforderungen geben. Die Anzahl der Sitzungsräume,
in denen das Abstandsgebot von 1,5 m eingehalten werden kann, ist im Brüsseler
Ratsgebäude beschränkt. Sicherlich können physische Sitzungen durch
Videokonferenzen ersetzt werden, die Möglichkeiten halten sich aber auch hier
in Grenzen. Vor allem aber gibt es wohl kaum digitale Lösungen, um die im
politischen Bereich häufig sehr wertvollen persönlichen und vertraulichen Gespräche
zu ersetzen.
Aber auch thematisch ist Deutschland dabei, sein Programm anzupassen. Ursprünglich
geplante Prioritäten werden in den Hintergrund treten, andere werden ganz oben
auf die Agenda rücken. Das Thema „Plattformarbeit“ wird eines sein, das erst 2021
wieder intensiver auf europapolitischer Ebene behandelt wird. Eine stärkere
europäische Mindestsicherungspolitik wird aber womöglich auch von der deutschen
Ratspräsidentschaft weiterverfolgt. Hier geht es unter anderem um
Armutsvermeidung. Auch der schon von deutscher Seite gesetzte Schwerpunkt der
„Digitalisierung“ wird beibehalten. Die schwierigen Verhandlungen zum Brexit und
zum EU-Haushalt müssen unter deutschem Vorsitz weitergeführt werden. Eine Rolle
werden aber auch die Sicherstellung von Versorgungsketten und die Rückholung der
Produktion von Arzneimitteln und Medizinprodukten nach Europa.
Ein Kommentar von Ilka Wölfle, Direktorin der Europavertretung der Deutschen Sozialversicherung
Quelle: DGUV forum 04/2020