Bekämpfung von Ungleichheit in Pflege und Betreuung
Wertschöpfungspotenziale in der Pflege
LB – 06/2022
Pflegearbeit
wird – nicht nur innerhalb der EU – überwiegend von Frauen geleistet. Das gilt
sowohl für bezahlte Pflegekräfte innerhalb der sozialen Systeme als auch für
unbezahlte Betreuungstätigkeiten, z. B. in Familien und Haushalten, wo sich
Frauen um den Nachwuchs oder die ältere Generation kümmern.
Prekäre Auswirkungen treffen vor allem Frauen
Die
Zahl bezahlter Pflegekräfte innerhalb der EU wird auf etwa 12 Millionen
geschätzt. Sie befinden sich eher im unteren Drittel der Lohnverteilung;
zudem arbeiten sie häufig in Teilzeit und haben einen befristeten Vertrag. Auch der Zugang zur sozialen Sicherheit kann eingeschränkt sein, insbesondere
für häusliche Pflegekräfte. Innerhalb der EU sind die politischen und
rechtlichen Rahmenbedingungen für Pflegeleistungen in den einzelnen Mitgliedstaaten
unterschiedlich.
Auch
wenn sich die geschlechtsspezifische Diskrepanz in den letzten Jahren etwas
verringert hat, ist sie nach wie vor groß. Schätzungsweise 92 Prozent der
erwachsenen Frauen in der EU leisten täglich unbezahlte Betreuungsarbeit,
verglichen mit 68 Prozent der Männer. Dieses Gefälle wirkt sich auf die Teilhabe von Frauen am Arbeitsleben aus: Sie sind seltener erwerbstätig,
arbeiten häufiger in Teilzeit und verfolgen eher Berufe mit niedriger
finanzieller Entlohnung und schlechteren Aufstiegschancen als Männer. Die unausgewogene
Verteilung der Pflegearbeit führt damit in ökonomischer Hinsicht zur Benachteiligung
von Frauen. Hinzu kommen weitere Auswirkungen von Pflege- und
Betreuungstätigkeiten, beispielsweise auf den Gesundheitszustand. Über die
Lebensspanne nimmt die Benachteiligung zu. Die Alternative bezahlter
Pflegedienste wird nicht immer genutzt. Gründe dürften neben hohen Kosten
vermutlich auch Verfügbarkeit und Qualität von Pflegeleistungen sein.
Maßnahmen der EU-Kommission
Der
Bedarf an Pflegekräften – bezahlt oder unbezahlt – hat in den letzten Jahren zugenommen,
beispielsweise bedingt durch die höhere Lebenserwartung. Gleichzeitig zeichnete
sich ein zunehmend schärfer werdender Personalmangel ab. Während der
Covid-19-Pandemie hat sich die Aufmerksamkeit für die Pflegearbeit noch einmal
erhöht. In der Folge hat die Europäische Kommission – ergänzend zu vorherigen
Maßnahmen beispielsweise im Rahmen der Europäischen Säule sozialer Rechte 2017
– die sogenannte Aufbau- und Resilienzfazilität als Teil eines umfassenden
Krisenbewältigungsplans aufgelegt. Dafür wurden EU-weit insgesamt ca. 58
Milliarden Euro bereitgestellt, die u.a. für Investitionen in den Pflegesektor
genutzt werden können. Darüber hinaus hat die EU-Kommission 2022, im Jahr der Pflege, mit ihrem Vorschlag für eine europäische Pflegestrategie weitere Unterstützung für den
Pflegesektor zugesagt.
Vorschläge des Europäischen Parlaments
Die
Ambitionen des Europäischen Parlaments im Rahmen einer Entschließung zur „Strategie für die Gleichstellung der
Geschlechter 2020-2025“
gehen darüber hinaus. Sie sind auf die Umverteilung der Pflegeverantwortung
zwischen den Geschlechtern und gleichzeitig die Höherbewertung der Pflege –
sowohl gesellschaftlich als auch ökonomisch – und die Modernisierung des
Pflegesektors ausgerichtet. Im Rahmen des sogenannten „Betreuungs- und
Pflegedeals“ wurden eine Reihe von Maßnahmen vorgeschlagen, die z. B. die Qualifikation,
Lohn, und Arbeitsgestaltung von Pflegekräften, aber auch die Unterstützung von
Reformvorhaben, Infrastruktur, Qualitätsleitlinien oder Überwachungs- und
Kontrollmechanismen betreffen. Zudem werden die Anerkennung und Unterstützung
unbezahlter Pflegekräfte sowie deren Arbeitsbedingungen explizit
berücksichtigt.
Europäischer Mehrwert
Die
Vorschläge des Europäischen Parlaments postulieren einen europäischen Mehrwert, wie die Förderung eines höheren Bruttoinlandsprodukts
und die Aufwärtskonvergenz der Mitgliedstaaten. Diese können sich z. B. aus
einer besseren Ausschöpfung des Arbeitsmarktpotenzials von Frauen, mehr
Arbeitsplätzen im Pflegesektor oder der Eindämmung von Schwarzarbeit in der Betreuung
ergeben. Eine aktuelle Publikation des wissenschaftlichen Dienstes für das
EU-Parlament (EPRS) hat dazu auf der Grundlage verschiedener Annahmen konkrete
Zahlen kalkuliert. Danach könnte beispielsweise die Verringerung der
Betreuungslücke um 10 bis 20 Prozent EU-weit mindestens 29 Milliarden Euro
generieren. Voraussetzung dazu wären zunächst Investitionen. Dazu verweist das
EPRS auf eine Studie zur Langzeitpflege aus Österreich, nach der jeder investierte Euro mit
einer inländischen Wertschöpfung von 1,7 Euro sowie weiteren 0,7 Euro an
Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen verbunden ist.