Soziale Sicherungssysteme in Europa gestalten
Zeitenwende auch bei der Rente
VS – 04/2023
Im März fand auf Einladung des Center for European Policy
Studies (CEPS) in Kooperation mit dem spanischen Sozialministerium eine
hochrangige Diskussionsrunde zum Thema „Public Pension System: Changing Narratives, Changing
realities?“ statt. Vor den großen
gesellschaftlichen Veränderungen wie der demografischen Entwicklung, dem Wandel
in der Arbeitswelt und den Veränderungen durch den Klimawandel, wurde auf
akademischer und politischer Ebene in zwei Panels über die Auswirkungen für die
staatlichen Rentensysteme diskutiert. Es gilt auch in Zukunft leistungsfähige
Rentensysteme sicherzustellen. Hierfür benötigt Europa einen neuen Blick auf
die Rentenpolitik, so der Tenor der Veranstaltung.
Widerstandsfähigkeit durch Investitionen in Bildung
Die Anwesenden waren sich einig, dass in Anbetracht der
demografischen Herausforderung ein hohes Sozialschutzniveau, eine hohe Erwerbsbeteiligung
und stetiges Produktivitätswachstum erforderlich sind. Hierzu bedarf es
deutlich gesteigerter Investitionen, insbesondere in Bildung und Weiterbildung.
Umfassende Qualifizierungsmaßnahmen aber auch Prävention, Rehabilitation und
Arbeitsschutz sind ebenso notwendig, um den Folgen des Klimawandels und des
europäischen Grünen Deals sowie der Digitalisierung erfolgreich begegnen zu
können. Wie bereits im Abschlussbericht der hochrangigen Expertengruppe zur Zukunft des Sozialschutzes und des
Wohlfahrtsstaates in der EU (HLG) empfohlen, müssen die Bürgerinnen und Bürger
in die Lage versetzt werden, erfolgreich und möglichst lange am Erwerbsleben
teilzuhaben.
Europa hat hier noch einiges zu tun. Noch immer verfügen zu
viele junge Erwachsene über keine oder eine nur unzureichende Ausbildung. In
vielen Mitgliedstaaten ist der Einstieg junger Erwachsener in das Erwerbsleben zunehmend
durch prekäre und zeitlich befristete Jobs geprägt. Dies hat auch langfristige
Folgen für die Rentenanwartschaften im Alter. In deren Berechnung geht in fast
allen Mitgliedstaaten die gesamte Erwerbskarriere ein. Nach dem spanischen
Sozialminister José Luis Escrivá wird der Einstieg ins Erwerbsleben ein
Themenschwerpunkt für die spanische Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr
2023.
Zugang aller Beschäftigten zum Sozialschutz
Sozialminister Escrivá, die belgische Rentenministerin Karine Lalieux
und der deutsche Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales Dr.
Rolf Schmachtenberg, stimmten darin überein, dass die bestehenden Lücken beim
Zugang zum Sozialschutz zu schließen sind – wie in Grundsatz 12 der Europäischen Säule sozialer Rechte (ESSR) vereinbart. Bisher sind die
Rentensysteme noch zu stark auf traditionelle Erwerbsmodelle ausgerichtet.
Dabei ist die Initiative jedes Mitgliedstaates entsprechend der jeweiligen
Sicherungslücken gefragt. Darüber hinaus gilt es, auf europäischer Ebene den
Wandel in der Arbeitswelt zu gestalten. Der Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission zur Plattformarbeit ist hierfür ein wichtiger
Schritt. Eine leistungsfähige Alterssicherung benötigt hochwertige
Arbeitsplätze für qualifizierte und sozial abgesicherte Erwerbstätige.
Demografie ist gestaltbar
Gegen alle Prognosen der letzten drei Dekaden ist das
Alterssicherungssystem in Deutschland stabil. Grund ist der starke Anstieg der
sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, die laut Schmachtenberg heute
fünf Millionen Beschäftigte mehr aufweist als noch vor gut zehn Jahren
prognostiziert. Die Gründe sind die gestiegene Erwerbsbeteiligung – vor allem von Älteren und von Frauen – sowie die Migration. Das Beispiel zeigt,
die demografische Entwicklung ist gestaltbar. Auch wenn die Migration hierbei
ein politisch viel diskutiertes Thema ist, ist sie für die Zukunftsfähigkeit
Europas wichtig.
Das europäische Sozialmodell – ein Wettbewerbsvorteil
Die Rentensysteme und die sozialen Sicherungssysteme insgesamt haben
in den vergangenen Krisen erheblich zur Stabilisierung der wirtschaftlichen
Lage beigetragen. Die Krisen haben auch gelehrt, dass Mitgliedstaaten mit
leistungsfähigen sozialen Sicherungssystemen besser durch diese gekommen sind
und damit einen wesentlichen Beitrag zur weiteren wirtschaftlichen Entwicklung geleistet
haben und weiterhin leisten. Die Leistungsfähigkeit der sozialen
Sicherungssysteme wird auch im außereuropäischen Ausland wahrgenommen. Bei der
Konkurrenz um Fachkräfte ist dies einer oder vielleicht der entscheidende
Trumpf Europas.
Eine neue „golden rule“ für Europa
Europa muss sich auch über die Leistungsfähigkeit
und Zukunftsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme seiner Mitgliedsstaaten
definieren. Gemeinsame Ziele und Grundsätze wie in der ESSR sowie deren
konsequente Umsetzung müssen die Pfeiler des europäischen Sozialmodells sein.
Minister Escrivá und Schmachtenberg unterstützen dabei ausdrücklich, die von
der HLG formulierte neue „golden rule“: Vor dem Hintergrund von Klimawandel und
Digitalisierung ist die Aufgabe der Fiskalpolitik in der EU, den zukünftigen
Bedarf an Sozialschutz und Sozialinvestitionen sicher zu stellen.