Der Weg aus Europas Pflegekrise
ed* Nr. 02/2025 – Kapitel 5
Ob im Handwerk, Bildungs- und Gesundheitswesen, in zahlreichen Branchen fehlen zunehmend Arbeitskräfte. Besonders sichtbar wird die Krise jedoch im Gesundheitsbereich, wo der Mangel direkte Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit hat. Während der COVID-19-Pandemie rückten Beschäftigte im Gesundheitswesen durch Applaus von Balkonen und politischer Anerkennung ins öffentliche Licht. Nach und nach ließ das Bewusstsein für die Arbeit, die tagtäglich von einer immer geringer werdenden Zahl von Gesundheitsdienstleistenden erledigt wird, nach. Doch die strukturellen Herausforderungen sind geblieben. Der Fachkräftemangel in Gesundheits- und Pflegeberufen bedroht die Versorgungssicherheit in Europa.
Nach aktuellen OECD-Zahlen fehlen in der EU über 1,2 Millionen Gesundheitsfachkräfte – Tendenz steigend. Ein Drittel der Ärztinnen und Ärzte und ein Viertel der Pflegekräfte sind älter als 55 Jahre und erreichen bald das Rentenalter. Zugleich nimmt der Bedarf durch alternde Bevölkerungen, steigende Pflegeintensität und komplexere Behandlungsanforderungen zu. Der europäische Binnenmarkt verschärft die Lage zusätzlich, denn viele Fachkräfte aus östlichen und südlichen Mitgliedstaaten zieht es in den Westen. Zudem kommt der informellen Pflege eine immer wichtigere Rolle zu. Pflegende Angehörige leisten einen erheblichen Teil der Versorgung, oft mit hohem persönlichem Einsatz. Der Fachkräftemangel führt dazu, dass mehr unbezahlte Pflegearbeit geleistet wird, mit weitreichenden Folgen für Erwerbstätigkeit, Geschlechtergerechtigkeit und die Qualität der Pflege. Sie benötigen stärkere Unterstützungs- und Entlastungsangebote.
Die Anerkennung für Gesundheitsberufe muss über symbolische Gesten hinausgehen. Das betont nicht nur ein Diskussionspapier der OECD.1 Auch die Europäische Kommission versucht, dieses Problem zu adressieren. Mit der Europäischen Pflegestrategie, Programmen wie EU4Health und gezielter Mobilitätsförderung versucht sie, gegenzusteuern. Interessenverbänden geht dieses Engagement jedoch nicht weit genug. Sie fordern eine koordinierte europäische „Health Workforce Strategy“, die Ausbildung, Arbeitsbedingungen, digitale Unterstützung und länderübergreifende Planung verbindet. Ziel sollte es sein, Synergien zu bündeln und voneinander zu lernen. Das Europäische Parlament teilt diese Einschätzung und arbeitet derzeit an einem Initiativbericht zum Fachkräftemangel im Gesundheitsbereich.2

Die in den vergangenen Jahrzehnten erzielten Rückgänge bei arbeitsbedingten Verletzungen und Erkrankungen weichen derzeit Entwicklungen, die stagnieren oder im Fall von Muskel-Skelett-Erkrankungen und psychischen Problemen sogar wieder zunehmen. Europas rasch alternde Bevölkerung und die zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels stellen dringende Herausforderungen für den Schutz der Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten dar. Gleichzeitig bieten die fortschreitende Automatisierung und die breite Nutzung von KI sowohl Chancen zur Vermeidung von Arbeitsrisiken als auch neue Risiken, die bewältigt werden müssen.
Ein Blick über Landesgrenzen hinaus zeigt, dass in Ländern wie Slowenien oder Finnland bereits Maßnahmen ergriffen werden, um die Pflegekrise in ihren Ländern in den Griff zu bekommen. Ein zentrales Element ihrer Strategie ist der gezielte Einsatz von Wiederaufbaugeldern der EU zur Digitalisierung im Gesundheitswesen. Gleichzeitig bleibt die Anerkennung von Berufsqualifikationen aus dem Ausland eine zentrale Herausforderung. Innerhalb der EU gibt es zwar erhebliche Verschiebungen von Fachkräften, doch für Fachpersonen aus Nicht-EU-Staaten bestehen weiterhin bürokratische Hürden. Programme wie der EU-Talent-Pool sollen hier Abhilfe schaffen und den Zugang erleichtern.
Auch Projekte zur Pflegekräftebindung gewinnen an Bedeutung. Denn attraktive Arbeitsplätze sollten keine Ausnahme sein, sondern Voraussetzung für Versorgungsqualität. Wer gute Arbeitsbedingungen schafft, sorgt für längere Verweildauer, niedrigere Fehlzeiten und größere berufliche Identifikation – und trägt so zum Gesundheitsschutz bei. Ein europäisches Gesundheitswesen der Zukunft braucht nicht nur mehr Personal – es braucht bessere Bedingungen für alle, die da sind.