Menschen mit Behinderungen
in der COVID-19-Krise
ed* Nr. 02/2020 – Kapitel 5
Soziale Isolation, erschwerte Inanspruchnahme sozialer Dienste und Pflege, ein Mangel an zugänglichen Informationen und ein höheres Risiko, schwerere Fälle einer COVID-19-Erkrankung zu entwickeln, sind einige wenige Beispiele, die zeigen, dass Menschen mit Behinderungen in besonderem Maße von der COVID-19-Pandemie betroffen sind.
Neben sozialen und gesundheitlichen Auswirkungen treffen sie auch die wirtschaftlichen Folgen überproportional. Expertinnen und Experten fürchten, dass für Menschen mit Behinderungen ein höheres Risiko besteht, ihre Beschäftigung zu verlieren. In Deutschland ist die Zahl der bei der Bundesagentur für Arbeit arbeitslos gemeldeten schwerbehinderten Menschen beispielsweise von einhundertsiebenundfünfzigtausend fünfhundertdreiundzwanzig im März auf einhundertfünfundsiebzigtausend einhundertachtundachtzig im Juli 2020 angewachsen. Das waren zwanzigtausendsechshundertachtunddreißig Menschen mehr als im Vorjahresmonat (Juli 2019).1
Wegen der Schwierigkeit, einen Arbeitsplatz im regulären Arbeitsmarkt zu finden, bleibt den Betroffenen häufig nur eine Beschäftigung im informellen Sektor. Dies schließt sie von beitragsfinanzierten Sozialversicherungssystemen und in Zeiten von Corona häufig auch von staatlichen Hilfsmaßnahmen, die Einkommensverluste ausgleichen sollen, aus. Für diejenigen, die erwerbstätig sind, können sich aufgrund des Fehlens von Ausstattung oder personeller Unterstützung, die am Arbeitsplatz verfügbar wären, Probleme ergeben, im Homeoffice zu arbeiten, wodurch sich das Risiko des Arbeitsplatz- und Einkommensverlustes weiter erhöht. Diejenigen, die in Werkstätten arbeiten, waren von den Schließungen der Einrichtungen betroffen. Dies hatte negativen Auswirkungen auf ihr Arbeitsentgelt, das häufig von den durch die Werkstätten erzielten Einnahmen abhängt. Letztlich kann vor dem Hintergrund höherer Ausgaben, zum Beispiel für barrierefreies Wohnen, Hilfsmittel und notwendige Dienstleistungen, auch die indirekte Betroffenheit von COVID-19-Maßnahmen das Armutsrisiko von Menschen mit Behinderungen erhöhen, nämlich dann, wenn sich das Einkommen von Familienangehörigen und damit das Gesamteinkommen des Haushalts verringert.
Maßnahmen und Politik-Empfehlungen
Eine Reihe internationaler Organisationen haben bereits früh gefordert, Menschen mit Behinderungen in die Reaktionen auf die Krise einzubeziehen. Der Generalssekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, hatte im Mai 2020 die Regierungen aufgefordert, Menschen mit Behinderungen in den Mittelpunkt der Maßnahmen in Reaktion auf die COVID-19-Krise zu stellen. 138 Staaten, darunter auch die EU und ihre Mitgliedstaaten, haben am 18. Mai 2020 eine gemeinsame Erklärung für eine inklusive, Menschen mit Behinderungen einbeziehende Reaktion auf COVID-19 unterzeichnet.
Die IAO fordert, Menschen mit Behinderungen in allen Phasen der Reaktion auf die Pandemie einzubeziehen.2 Neben sofortige Hilfen, wie die Aufrechterhaltung persönlicher Unterstützung und die Teilhabe am Arbeitsplatz, geht es insbesondere um die Beteiligung bei der Planung, der Zuweisung finanzieller Ressourcen und bei Programmen der Beschäftigungsförderung sowie der Gewährleistung inklusiver Arbeitsmärkte und eines angemessenen Sozialschutzes, der die Berufstätigkeit und wirtschaftliche Unabhängigkeit unterstützt. Leistungen würden häufig auf der Annahme einer „Arbeitsunfähigkeit“ basieren, was Vorurteile verstärke und negative Anreize für die Arbeitssuche schaffe. Maßnahmen in Reaktion auf die Krise sollten diese Fehlanreize nicht fortführen.
Auch das Europäische Parlament hat in seiner Entschließung zur neuen EU-Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderungen für die Zeit nach 2020 gefordert, die Lehren aus der COVID-19-Pandemie zu berücksichtigen.3 Die von den Mitgliedstaaten ergriffenen Maßnahmen sollen analysiert und auf Lücken überprüft werden. Bereits zuvor hatte es gefordert, Menschen mit Behinderungen in alle Einkommensschutzmaßnahmen einzubeziehen.4
Erste Maßnahmen der Mitgliedstaaten in Reaktion auf die Pandemie beziehen sich auf kurzfristige Hilfspakete. So wurden den Integrationsämtern in Deutschland einmalig 70 Millionen Euro für Werkstätten zur Verfügung gestellt, in denen Menschen mit Behinderungen arbeiten, um Verdienstausfälle zu kompensieren. Für die Monate Juni bis August 2020 wurde ein Programm „Überbrückungshilfe für kleine und mittelständische Unternehmen, die ihren Geschäftsbetrieb im Zuge der Corona-Krise vollständig oder zu wesentlichen Teilen einstellen mussten“ verabschiedet, von dem auch Inklusionsbetriebe profitieren sollen. Österreich hat kurzfristig für die Monate April bis Juni den für angestellte Menschen mit Behinderung gewährten Arbeitsplatzsicherungszuschuss um bis zu 50 Prozent erhöht. Selbständigen wurde der bestehende Überbrückungszuschuss in Höhe von 267 Euro pro Monat, der bei einem behinderungsbedingten Bedarf gewährt werden kann, auch ohne diesen Nachweis zur Verfügung gestellt.5
Lessons learnt?
Bereits vor der Krise war es für Menschen mit Behinderungen schwieriger, eine Beschäftigung mit angemessenen Bedingungen und adäquater Entlohnung zu finden. In der EU sind nur 50,6 Prozent der Menschen mit Behinderungen beschäftigt, verglichen mit 74,8 Prozent der Menschen ohne Behinderung.6
Das Europäische Parlament fordert eine ambitionierte EU-Strategie für die Zeit nach 2020, die eindeutige und messbaren Zielvorgaben beinhalten soll, einschließlich einer Liste geplanter Maßnahmen mit einem klaren Zeitrahmen und den vorgesehenen Ressourcen, unter anderen in den Bereichen Teilhabe, unabhängige Lebensführung, Beschäftigung und Ausbildung. Auch die Mitgliedstaaten sollen in die Pflicht genommen werden, um Maßnahmen zur Förderung der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt weiterzuentwickeln und besser umzusetzen. Diejenigen, die in geschützten Werkstätten arbeiten, sollen als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Sinne des Gesetzes anerkannt und es soll sichergestellt werden, dass sie Anspruch auf denselben sozialen Schutz wie andere Arbeitnehmer haben.
Für eine Beurteilung, ob ergriffene oder zu ergreifende Maßnahmen tatsächlich den Empfehlungen der Expertinnen und Experten Rechnung tragen, das heißt das Armutsrisiko von Menschen mit Behinderungen verringern und zu inklusiveren Arbeitsmärkten beitragen, ist es noch zu früh. Bei den Politik-Empfehlungen im Hinblick auf die Beschäftigung und soziale Absicherung von Menschen mit Behinderungen handelt es sich jedoch weitgehend um „alte Bekannte“. Trotz allen technischen Fortschritts und aller politischen Forderungen haben sich die Statistiken zum Aufbau inklusiver Arbeitsmärkte in den letzten 20 Jahren kaum verändert. Nur etwa 50 Prozent der Menschen mit Behinderungen, die arbeiten möchten, haben einen Arbeitsplatz. Maßnahmen mit messbaren Zielvorgaben und einem klaren Zeitrahmen, wie vom Europäischen Parlament vorgeschlagen, könnten einen Beitrag dazu leisten, die Lücke zwischen Politikempfehlungen und Realität zu verkleinern.7