Digitale Dekade und soziale Sicherheit
ed* Nr. 01/2024 – Kapitel 3
Neben dem Klimawandel muss auch der digitale Wandel in ganz Europa bewältigt werden. Über das Programm der digitalen Dekade, das Ende 2022 beschlossen worden ist, sollen mindestens 80 Prozent der Menschen in der EU bis zum Jahr 2030 über digitale Grundkompetenzen verfügen. Mindestens 75 Prozent aller Unternehmen sollen KI, Big Data oder Clouds nutzen. Ein besonderer Schwerpunkt des Programms liegt darin, die öffentlichen Dienste zu digitalisieren.
Digitale Rechte und Grundsätze der EU
Im Bereich der Sozialversicherung sind in der letzten Wahlperiode deutliche Fortschritte zu verzeichnen gewesen. Seit Mai werden alle zwischenstaatlichen Prozesse der Sozialversicherungsträger EU-weit über den elektronischen Austausch von Sozialversicherungsdaten (EESSI) abgewickelt. Das einheitliche Zugangstor zur öffentlichen Verwaltung ist am Netz. Gemeinsam mit der Verordnung für eine Europäische Digitale Identität, die bis zum Jahr 2026 vollständig umgesetzt werden soll, sind die Weichen für einen Europäischen Sozialversicherungsausweis (ESSPASS) gestellt worden. Dieser soll es mobilen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ermöglichen, EU-weit auf wichtige Verwaltungsdokumente zugreifen und sie im behördlichen Alltag nutzen zu können. Die Mobilität und damit die Freizügigkeit der Menschen in der EU werden so digital flankiert.
Die Digitalisierung der sozialen Sicherheit stärkt den Binnenmarkt
Die Digitalisierung wird sicherlich auch in der neuen Amtsperiode einen hohen Stellenwert haben. Das zeigen nicht zuletzt die Wahlprogramme der großen europäischen Parteifamilien. Christdemokraten (EVP), Liberale (ALDE), Grüne (EGP) und Linke (EL) wollen sich für die Regulierung und den Schutz von Arbeitnehmerrechten im digitalen Zeitalter einsetzen, die Digitalisierung des Gesundheitswesens voranbringen, die Vermittlung digitaler Kompetenzen intensivieren (ALDE) oder auch die Forschung zu KI-basierten Methoden in der Gesundheitsprävention und -behandlung oder der Arbeitskräftemobilität durch den Europäischen Sozialversicherungsausweis fördern (EVP). Zu letzterem laufen derzeit zwei Pilotprojekte, welche bis April 2025 die Grundlage dafür legen sollen, dass zunächst die A1-Bescheinigung für entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und dann die Gesundheitskarte (EHIC) elektronisch nutzbar wird. Auch die Deutsche Rentenversicherung Bund und der GKV-Spitzenverband bringen sich hier aktiv mit zahlreichen anderen Sozialversicherungseinrichtungen aus Europa ein. Aus Sicht der DSV muss die Digitalisierung der sozialen Sicherheit konsequent umgesetzt werden, damit die Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme und damit die Arbeitnehmerfreizügigkeit bürgerfreundlich weiterentwickelt und der Binnenmarkt gestärkt wird.
Die Digitalisierung wird nicht den Konflikt um die „883“ lösen können
Sicherlich wird die Digitalisierung dazu beitragen, die Kontroverse um die Reform der Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit – kurz: die „883“ – zu entschärfen. Sie wird aber den inhaltlichen Dissens nicht zur Gänze lösen. Nachdem die Revision in 18 Trilogen nicht geeint werden konnte, ist offen, wie weiter verfahren wird. Nichtstun ist dabei keine Option. Die DSV hat wiederholt angemahnt: Beschäftigte wie Unternehmen, die grenzüberschreitend tätig werden, brauchen ein zeitgemäßes Koordinierungsrecht. Es wäre nicht vermittelbar, wenn einem Streit um wenige Punkte – vornehmlich die Ausnahmen von der Vorabnotifizierung der A1-Bescheinigung und die leistungsrechtliche Ausgestaltung des Arbeitslosengeldes bei grenzüberschreitender Arbeitssuche – wesentliche, geeinte Kompromisse wie zum Beispiel zum Umgang mit grenzüberschreitenden Pflegeleistungen zum Opfer fielen. Mit hoher Priorität ist hier nach einer Lösung zu suchen.
Europäischer Gesundheitsdatenraum
Das nächste digitale Großprojekt steht schon in den Startlöchern. Nach nur gut zwei Jahren Verhandlungsdauer wird der politische Kompromiss zum Europäischen Gesundheitsdatenraum aus dem März 2024 Ende des Jahres in Kraft treten. Dieser wird der Nutzung von Gesundheitsdaten einen enormen Schub geben und die medizinische Versorgung der Bürgerinnen und Bürger – auch grenzüberschreitend – verbessern. Lange ist um Fragen des Schutzes der sensiblen Gesundheitsdaten gerungen worden – eine Debatte, die wichtig war, um Vertrauen zu diesem bedeutenden Gesundheitsprojekt fassen zu können. Im Ergebnis wird jeder einzelne bestimmen können, ob er die Nutzung seiner Gesundheitsdaten zulässt oder nicht.
Gemeinsame Europäische Datenräume