Magazine ed*
ed* Nr. 03/2022

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

vor fünf Jahren haben wir die erste Ausgabe unseres Themenletters ed* der Europäischen Säule sozialer Rechte (ESSR) gewidmet; eine vom ehemaligen Präsidenten der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, angestoßene Initiative. Die „Säule“, wie sie seither kurz genannt wird, sollte dazu beitragen, die soziale Dimension in Europa zu stärken.

ed* Nr. 03/2022 – Kapitel 1

Mit der Betonung sozialer Aspekte wollte die Europäische Kommission auch auf die damalige Krise der europäischen Integration reagieren. Denn die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union (EU) wurden zunehmend europaskeptisch. Ende des Jahres 2015 hatten EU-weit nur noch 37 Prozent der Menschen ein positives Bild von der EU, während der Anteil derjenigen mit einem negativen Bild auf 23 Prozent angestiegen war.1 Vor 2015 hatte auch noch nie ein EU-Mitglied ernsthaft den Austritt aus der Union erwogen – 2016 wurde das Brexit-Referendum durchgeführt. Es war die Zeit, in der sich die Mitgliedstaaten unbeugsam gegeneinander positionierten – und dies in gleich zwei Kernbereichen: In der Eurorettungspolitik stand der Norden wirtschaftspolitisch gegen den Süden, in der Asylpolitik der Westen gesellschaftspolitisch gegen den Osten. Gleichzeitig rückten Fragen zur Rechtsstaatlichkeit in den neuen Mitgliedstaaten in den Vordergrund. Dabei waren in großen Teilen der EU noch die Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise zu spüren, in Form hoher Erwerbslosenquoten – insbesondere bei jungen Erwachsenen – und einem niedrigeren Lebensstandard als vor der Krise. Europa benötigte eine neue Vision. Für sich und für die Bürgerinnen und Bürger.


Dies ist die Geburtsstunde der ESSR, die von den seinerzeit 28 Mitgliedstaaten am 17. November 2017 proklamiert wurde. Sie wurde mit ihren 20 Grundsätzen und Prinzipien als eine Richtschnur für ein starkes soziales Europa gefeiert. Vom Recht auf Chancengleichheit und einem gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, über faire Arbeitsbedingungen bis hin zum Sozialschutz und zur ­Inklusion – mit der „Säule“ sollten umfassende Reformen der Arbeitsmärkte und Sozialsysteme in den Mitgliedstaaten angestoßen werden. Gesellschaftspolitische Herausforderungen, mit denen die Menschen in Europa gleichermaßen konfrontiert sind, sollten europäisch übergreifend analysiert, bewertet und angegangen werden. Daran ist in den vergangenen Jahren im Rahmen zahlreicher Initiativen intensiv gearbeitet worden.


Die „Säule“ ist nun fünf Jahre alt geworden. Dieses erste Jubiläum gibt Anlass zu schauen, wie erfolgreich das Konzept bislang war. Was konnte erreicht werden, was nicht? Es ist auch ein geeigneter Zeitpunkt, um sich mit einer möglichen Weiterentwicklung der ESSR intensiver zu befassen.

 

Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre!


Ihre Ilka Wölfle

Direktorin