Ausblick: Untauglicher Versuch oder Stärkung der sozialen Dimension?
Die Fülle der politischen Aktivitäten, die sich in den vergangenen fünf Jahren entfaltet haben, zeigt deutlich, dass sich die ESSR als ein tauglicher Motor für neue Initiativen im Bereich Sozialschutz erwiesen hat.
ed* Nr. 03/2022 – Kapitel 7
Durch den klaren Bezug all dieser Initiativen zu den einzelnen Grundsätzen der ESSR entsteht ein kohärentes Gesamtbild einer europäischen Sozialschutzstrategie, die ohne eine Vereinheitlichung der sozialen Sicherungssysteme auskommt. Dies ist auch richtig so, denn die gesellschaftliche und wirtschaftliche Ausgangslage, das Selbstverständnis und die historische Prägung sowie die politischen Präferenzen in den einzelnen Mitgliedstaaten sind sehr unterschiedlich und müssen berücksichtigt werden.
Die ESSR stärkt die soziale Komponente Europas gegenüber den wirtschaftspolitischen und fiskalischen Prioritäten. Sie unterscheidet sich auch positiv vom Ansatz des Fünf-Präsidenten-Berichts, indem eine grundlegende Konvergenz der leistungsfähigen sozialen Sicherungssysteme in Europa angestoßen wird.
Dr. Rolf Schmachtenberg, Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales
„Die Europäische Säule Sozialer Rechte (ESSR) treibt seit ihrer Proklamation im Jahr 2017 die Fortentwicklung des Sozialen Europas voran. Die ESSR mit ihren zwanzig knappen und präzisen formulierten Grundsätzen steht für ein Europa, in dem soziale Rechte mit wirtschaftlichen Freiheiten Hand in Hand gehen. In Ausfüllung der Säule sind seit 2017 zahlreiche konkrete arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Vorhaben verabschiedet worden. So zum Beispiel die kürzlich mit breiter Mehrheit in Parlament und Rat beschlossene Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in allen EU-Mitgliedstaaten – ein sozialpolitischer Meilenstein. Auf ihrem Gipfeltreffen in Porto haben die Staats- und Regierungschefs 2021 ihr Bekenntnis zur ESSR erneuert und konkrete sozialpolitische Ziele für die EU und Ihre Mitgliedstaaten bis 2030 beschlossen. Auch die Bundesregierung setzt die 2030-Ziele zu Armutsbekämpfung, Weiterbildungs- und Beschäftigungsbeteiligung auf nationaler Ebene um.“
Die ESSR hat damit – im Gegensatz zu den Versuchen in der Vergangenheit, die soziale Dimension der EU zu stärken – sehr wohl zu einer Wende in der EU beigetragen. Sicherlich haben die Pandemie und die aktuelle Wirtschaftskrise einige Prozesse beschleunigt. Unverkennbar sind dennoch die Bemühungen in der aktuellen 9. Legislaturperiode, Verbesserungen im sozialen Bereich für die Bürgerinnen und Bürger in der EU herbeizuführen.
Der mit der ESSR eingeschlagene Weg ist richtig. Europa muss sich auch über die Leistungsfähigkeit und Zukunftsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme seiner Mitgliedstaaten definieren. Gemeinsame Ziele und Grundsätze sowie deren konsequente Umsetzung müssen die Pfeiler des europäischen Sozialmodells sein. Damit ist die ESSR auch für die Weiterentwicklung der deutschen Sozialversicherung handlungsleitend.
Die ESSR steht in einem engen Bezug und in Wechselwirkung zu den europäischen Zukunftsstrategien wie dem Green Deal oder der digitalen Dekade. Von der hochrangigen Expertengruppe werden wichtige Impulse erwartet, wie die soziale Sicherung auf europäischer Ebene zukunftsfest gemacht werden kann. Die ESSR wird hier ihre Rolle neu finden. Insofern dürfen wir gespannt sein auf die nächsten fünf Jahre.