Recht auf angemessenen sozialen Schutz
Der massive Wandel der Arbeitswelt hat sich nicht nur auf die Sicherheit und Gesundheit der Erwerbstätigen ausgewirkt, sondern auch ganz allgemein auf die soziale Absicherung. Wenn sich die Arbeitsmärkte entwickeln und verändern, bedürfen auch die Sozialschutzsysteme einer Anpassung.
ed* Nr. 03/2022 – Kapitel 5
Die ESSR formuliert in ihrem Grundsatz 12, dass alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, unabhängig von der Art und Dauer ihres Beschäftigungsverhältnisses, aber auch Selbständige, das Recht auf angemessenen Sozialschutz haben sollen. Schon eineinhalb Jahre nach ihrer Proklamation hat die Europäische Kommission diesen Grundsatz mit Leben gefüllt und eine rechtlich nicht bindende Empfehlung zum Zugang zum Sozialschutz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Selbstständige vorgeschlagen. Nach intensiven Verhandlungen hat sich der Rat der Europäischen Union am 8. November 2019 auf eine Ratsempfehlung verständigt, die die Mitgliedstaaten dazu anhalten soll, allen Erwerbstätigen eine angemessene, soziale Absicherung zu gewährleisten.1 Dadurch sollen die in einigen Mitgliedstaaten bestehenden Lücken geschlossen werden. Denn auch heute noch verfügen viele selbständig Erwerbstätige über keinen ausreichenden Schutz, da sie von den sozialen Sicherungssystemen nicht oder nur unzureichend erfasst werden.
Auch heute noch verfügen viele selbständig Erwerbstätige über keinen ausreichenden Schutz.
Dies gilt insbesondere für Personen mit niedrigem Erwerbseinkommen aus selbständiger Tätigkeit oder atypischer Beschäftigung, wie beispielsweise Saisonarbeit oder Minijobs. Gleiches kann für Formen von Erwerbstätigkeit im Grenzbereich zwischen Selbständigkeit und abhängiger Beschäftigung gelten. Dabei ist die Situation in den Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich. So ist Deutschland das einzige EU-Land, in dem Selbständige über keine obligatorische Alterssicherung verfügen. Dagegen haben beispielsweise in Ungarn und Rumänien befristet Beschäftigte oder Gelegenheitsarbeiterinnen und -arbeiter keinen Anspruch auf Krankengeld und in Rumänien keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld, Leistungen nach einem Arbeitsunfall oder einer Berufskrankheit und Mutterschaftsleistungen. Aber auch bei der tatsächlichen Absicherung gibt es Unterschiede. Während in Deutschland, Finnland und Österreich über 50 Prozent der Erwerbslosen Arbeitslosengeld oder Grundsicherungsleistungen erhalten, sind dies in Schweden nur knapp über 20 Prozent und sogar weniger als 20 Prozent in Ungarn, Italien und Polen.2 Konkrete Problemlösungen können daher nur die Mitgliedstaaten selbst für ihre eigenen sozialen Sicherungssysteme entwickeln. Die Empfehlung setzt dabei jedoch auf ein gemeinsames europäisches Verständnis, um notwendige sozialpolitische Maßnahmen zu ergreifen.
Mit der ESSR hat die Europäische Kommission auch ihr Ziel begründet, die Beschäftigungsverhältnisse von Plattformbeschäftigten zu verbessern und ein Maßnahmenpaket zu Plattformbeschäftigung vorgelegt (Grundsatz 5 „Sichere und anpassungsfähige Beschäftigung“ und 12 „Sozialschutz“). Plattformbeschäftigung ist eine relativ neue Form grenzüberschreitender Arbeit und entzieht sich häufig nationalen Regelungen. Mit europaweit gültigen Regelungen für den Zugang zum Sozialschutz und die Arbeitsrechte von Plattformbeschäftigten soll deswegen ein gemeinsamer Rahmen geschaffen werden. Außerdem soll Rechtssicherheit für digitale Arbeitsplattformen und Plattformbeschäftigte hergestellt werden, denn häufig ist die Feststellung des Beschäftigungsstatus sehr schwierig.3 Davon sollen nicht nur die Rechte der Plattformbeschäftigten gestärkt werden, sondern auch die digitalen Arbeitsplattformen profitieren. Denn es soll einer rechtlichen Zersplitterung in eine Vielzahl unterschiedlicher nationaler Rechtsvorschriften und Gerichtsurteile entgegengewirkt werden, um die Attraktivität für digitale Arbeitsplattformen und die Innovationskraft des europäischen Binnenmarktes insgesamt zu steigern. Diese doppelte Zielsetzung spiegelt den Rahmen der ESSR wider. Wichtig ist, dass die Mitgliedstaaten hierbei über einen ausreichenden Gestaltungsspielraum verfügen. Eine Vertiefung der Europäischen Union bedarf aber einer engeren sozial- und beschäftigungspolitischen Zusammenarbeit auf europäischer Ebene.
Im Bereich der Gesundheit (Grundsatz 16 „Gesundheitsvorsorge“) wird in der ESSR das Recht auf rechtzeitige, hochwertige und bezahlbare Gesundheitsvorsorge und Heilbehandlung formuliert. Ungeachtet der primären Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für ihr Gesundheitswesen hält die EU hier einige Zügel selbst in der Hand. Mit ihrer unmittelbaren Zuständigkeit für Medizinprodukte und Arzneimittel kann sie einen Rahmen schaffen, um dem in der ESSR formulierten Anspruch zu genügen. Gelungen ist ihr dies zum Beispiel mit den Medizinprodukteverordnungen, mittels derer sichergestellt werden soll, dass die Medizinprodukte, die in Europa auf den Markt kommen, hinsichtlich ihrer Qualität solide geprüft werden und einwandfrei funktionieren.
Bei der anstehenden Revision der Arzneimittelgesetzgebung kommt der Europäischen Kommission die Verantwortung zu, mit überarbeiteten gesetzlichen Vorgaben daran mitzuwirken, dass Arzneimittel auch in Zukunft bezahlbar bleiben und überall in der EU vermarktet werden. Instrumente dazu hat sie, und Grundsatz 16 verpflichtet sie, diese zu nutzen. Zum Beispiel über eine angemessene Begrenzung von Marktexklusivitätsrechten für neue Arzneimittel, um den Generika- und Biosimilarwettbewerb zu unterstützen. Oder durch verbesserte Transparenzvorschriften, die die Preisbildung der Pharmaindustrie nachvollziehbar machen und die Verhandlungsposition der Mitgliedstaaten und der Krankenversicherung bei der Nutzenbewertung und Kostenerstattung stärken.
Wichtig ist auch, dass Europäische Kommission und Mitgliedstaaten Lehren aus der Pandemie gezogen haben. Mit ihrem Legislativpaket zur Europäischen Gesundheitsunion und der Einrichtung der Behörde für die Krisenvorsorge und -reaktion (HERA) sind erste Maßnahmen ergriffen worden, um für künftige gesundheitliche Bedrohungen besser gewappnet zu sein und die Gesundheit der EU-Bürgerinnen und Bürger besser zu schützen.
Zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung hat die Europäische Kommission im Mai 2022 ein weiteres Großprojekt angestoßen. Mit dem europäischen Raum für Gesundheitsdaten (European Health Data Space – EHDS) sollen Patientinnen und Patienten einen elektronischen Zugang zu ihren Gesundheitsdaten erhalten und diese zum Zwecke der Behandlung auch grenzüberschreitend nutzen können. Darüber hinaus geht es auch darum, Gesundheitsdatenschätze überall in der EU zu heben und zu gemeinwohlorientierten Zwecken, wie die bessere Erforschung von Erkrankungen und Entwicklung von Therapien, nutzen zu können.4
Die ESSR erweist sich auch als ein Treiber dafür, die Herausforderungen, die sich aus den alternden Gesellschaften Europas ergeben, konstruktiv anzunehmen. Die von der Europäischen Kommission veröffentlichte europäische Pflegestrategie5 greift den Grundsatz 18 der ESSR („Zugang zu Langzeitpflege“) auf mit dem Ziel, dazu beizutragen, dass der Zugang und die Qualität der Pflege in den Mitgliedstaaten verbessert wird. Die immer älter werdende Gesellschaft wird den Bedarf an Pflegeleistungen in den kommenden Jahrzehnten deutlich erhöhen. Die Europäische Kommission hat deswegen in ihrer Pflegestrategie die Mitgliedstaaten aufgefordert, in die Arbeitskräfte des Gesundheits- und Pflegesektors zu investieren und deren Arbeitsbedingungen sowie den Zugang zu Weiterbildungen zu verbessern. Auch der Grundsatz 9 „Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben“ der ESSR findet sich in der Pflegestrategie wieder. Die Strategie formuliert Handlungsbedarfe, um eine bessere Vereinbarkeit von Pflegeberufen und Familien zu erwirken. Besonders die Rolle von Frauen, die überwiegend im Pflegesektor und in der informellen Pflege arbeiten, soll gezielt gestärkt werden. Die geplante Überarbeitung der sogenannten Barcelona-Ziele soll zudem die frühkindliche Betreuung, Bildung und Erziehung verbessern.