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ed* Nr. 03/2022

Die Geburtsstunde der ESSR

Die von den fünf Präsidenten angestoßene Diskussion einer Vertiefung der gemeinsamen Politik um die Bereiche Arbeit und Soziales hat die Europäische Kommission mit der Vorlage ihrer Überlegungen für eine ESSR im Frühjahr 2016 konkretisiert. Dabei zielte der Vorschlag analog zum Fünf-Präsidenten-Bericht auf eine erste Verwirklichung in der Eurozone ab.

ed* Nr. 03/2022 – Kapitel 3

Im Rahmen der Diskussion mit den Mitgliedstaaten wurde deutlich, wie sehr die Wirtschafts- und Finanzkrise die Schwächen des Sozialschutzes in Europa offengelegt hat. Europa hatte viel zur Rettung von Bankinstituten und zur Kontrolle staatlicher Ausgabenpolitik beigetragen, aber wenig zur sozialen Absicherung seiner Bürgerinnen und Bürger. Kritisch wurde von vielen Mitgliedstaaten jedoch die im Fünf-Präsidenten-Bericht vorgeschlagene Kompetenzverlagerung für den Sozialschutz und damit auch der Sozial­versicherung auf europäischer Ebene gesehen. Auch die Beschränkung auf die Eurozone war nicht konsensfähig. Am Ende hat die Europäische Kommission diese Einschränkung aufgegeben. Die ESSR richtet sich an alle Mitgliedstaaten.

Quelle: Europäische Kommission

Für den damaligen Kommissionspräsidenten Juncker war die Proklamation der ESSR am 17. November 2017 ein entscheidender Moment für Europa. Er sah die Europäische Union schon immer auch als ein soziales Projekt und nicht nur als das Ergebnis eines gemeinsamen Binnenmarktes. Für ihn ging es um mehr als Geld, um mehr als den Euro. „Es geht um unsere Werte und um die Art, wie wir leben wollen.“1


Mit der Errichtung der ESSR haben die Europäische Kommission, der Rat und das Europäische Parlament einen neuen Modus Operandi für eine vertiefte Zusammenarbeit im Bereich des Sozialschutzes gefunden. Die ESSR soll als Kompass für ein starkes soziales Europa für alle Mitgliedstaaten dienen. Ziel ist, für eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen in ganz Europa zu sorgen, soziale Ungleichheiten abzubauen und so zu einem neuen Prozess des wirtschaftlichen Aufschwungs in der EU beizutragen.

Die EU oder die Mitgliedstaaten – ein Kompetenzgerangel

Mit der ESSR ist keine direkte Verlagerung von nationalen Kompetenzen auf die EU-Ebene verbunden. Allerdings sollen die gemeinsamen Grundsätze in die Prozesse der EU verankert werden und so wesentliche europäische Initiativen und Richtlinienvorschläge begründen. Diese können auch rechtsverbindliche Mindeststandards enthalten, wie zum Beispiel heute schon auf dem Gebiet des Arbeitsschutzes. Eine Vereinheitlichung der unterschiedlichen nationalen Sozialversicherungssysteme soll jedoch nicht angestrebt werden. Das europäische Sozialmodell definiert sich nicht über EU-weit vereinheitlichte Systeme, sondern über gemeinsame Grundsätze und Ziele. Die Verwirklichung der ESSR liegt damit in der gemeinsamen Verantwortung aller Beteiligten auf europäischer wie auf nationaler Ebene. 

Wesentliche Errungenschaften für die Sozialversicherung

Mit der Verabschiedung der ESSR wurde auch der Bedarf für neue legislative und nicht-legislative Initiativen formuliert. Auf dem Sozialgipfel in Porto 2021 hat sich die EU zur weiteren Umsetzung der ESSR auf einen Aktionsplan bis zum Ende der Amtszeit der aktuellen Europäischen Kommission verständigt. Darin werden europäische Initiativen angekündigt, mit denen die Umsetzung der ESSR beschleunigt werden soll. Darüber hinaus sollen auch gezielt die Herausforderungen im Bereich des Klimawandels, der Digitalisierung, der Globalisierung und der demografischen Entwicklung angegangenen werden. In Fortschreibung der EU2020-Strategie werden dabei drei Ziele mit konkreten Zielvorgaben unterlegt: Beschäftigung, Weiterbildung und Armutsreuduktion.


Wie hat sich die ESSR aber in den vergangenen Jahren tatsächlich in den Initiativen auf europäischer Ebene niedergeschlagen? Konnten bestehende Lücken in der sozialen Sicherung geschlossen werden? Wie haben sich die unterschiedlichen Politikfelder zu Gesundheit und Pflege, Rente und Pensionen sowie zum Arbeitsschutz entwickelt? Hier lohnt ein Blick auf wesentliche Maßnahmen im Bereich der sozialen Sicherung.