Magazine ed*
ed* Nr. 02/2023

Der Klimawandel wirkt 
wie ein ­Vergrößerungsglas

ed* Nr. 02/2023 – Kapitel 11

Die Herausforderungen, die auf die Sozialsysteme zukommen, sind nicht neu. Sieht man von wenigen Phänomenen wie den Einzug von tropischen Krankheitserregern wie dem Zika- oder dem West-Nil-Virus in europäische Gefilde einmal ab, trifft man auf bekannte Probleme. Was sich ändert, ist das Ausmaß. Der Klimawandel vergrößert wie durch eine Lupe die Risiken – Infektionskrankheiten und Allergien, Hitze und UV-Strahlung, psychische Belastungen. Und er verschärft die strukturellen Probleme durch Über-, Unter- und Fehlversorgung in den Systemen. Dies gilt für unnötige, ressourcenintensive Behandlungen im Krankenhaus oder nicht therapiegerechte Verordnungen von Arzneimitteln oder genauso wie für die immer noch unzureichenden Investitionen in die Prävention. Dabei können gezielte, evidenzbasierte Aufklärungs-, Präventions- und Versorgungsangebote dazu beitragen, gesundheitliche Folgen des Klimawandels abzumildern oder zu vermeiden. Angesichts der durch den Klimawandel wachsenden Dimension der Risiken fordert die OECD einen grundsätzlichen Richtungswechsel und mehr Geld für die Prävention.

© 2023 HorstWagner.euFrancesca Colombo, Abteilungsleiterin für den Bereich Gesundheit bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – OECD

Drei Prozent der Gesundheitsausgaben gehen in die Prävention. Das ist zu wenig. Die Sozialsysteme müssen sich hier fundamental ändern und die nötigen Investitionsmittel bereitstellen.

Investitionen in die Prävention rechnen sich. Eine Studie der Internationalen Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS)1, bei der die Daten aus über 300 Unternehmen aus 15 Ländern eingeflossen sind, hat gezeigt, dass der Return-on-investment von einem Euro bei Investitionen in betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz bei 2,2 Euro liegt. Es ist aber nicht allein eine Frage des Geldes. Der Umbau der Wirtschaft und der Gesellschaft sowie der Einsatz neuer, „grüner“ Technologien schafft auch neue Herausforderungen für Gesundheit und Arbeitssicherheit. Bei Biogas, Photovoltaik, Windkraftanlagen, Elektromobilität und Wasserstoff tun sich neue Felder auf. Im Umstieg auf nicht fossile Rohstoffe und kohlenstoffdioxidarme Produktionsprozesse müssen Risiken und Gefahren für viele Arbeitsplätze neu bewertet werden. Hier braucht es mehr Forschung, um die Risiken beurteilen und effektive Präventionsmaßnahmen entwickeln zu können. An dieser Stelle ist auch die Europäische Kommission gefordert.


Anlässlich der DSV-Fachkonferenz am 27. Juni 2023 brach Frank Siebern-Thomas, zuständig für faire grüne und digitale Transition sowie Forschung in der Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und Integration für die Europäischen Kommission eine Lanze. Mit Blick auf das Forschungsförderungsprogramm Horizont Europa wies er auf rege Forschungstätigkeiten hin, die über das Programm finanziert würden. Mit Forschung allein sei es aber nicht getan. Es brauche Netzwerke und einen systematischen Austausch von Best Practices. Exemplarisch hob er die EU-Mission für klimaneutrale und intelligente Städte hervor, über die einhundert europäische Städte, darunter neun aus Deutschland, unterstützt werden, bis zum Jahr 2030 klimaneutral zu werden. Aufgabe der Städte ist es, einen Gesamtplan für Klimaneutralität aufzustellen, der auch entsprechende Investitionspläne für Sektoren wie Energie, Gebäude, Abfallwirtschaft, Verkehr und grüne Stadtplanung umfasst. An dem Prozess werden Bürgerinnen und Bürger, Forschungseinrichtungen und der Privatsektor beteiligt. Ein Vorbild für das Gesundheits- und Sozialwesen? Sicher ist, der Umbau in Richtung Klimaneutralität erfordert das Mittun aller Beteiligten, ein koordiniertes Vorgehen und eine Kommunikation, die gewährleistet, dass die Menschen mitgenommen werden.